Auf einem abgelegenen Parkplatz vor dem Friedhof von Coulommes-la-Montagne steht ein schwarzer VW Passat in der einbrechenden Februardunkelheit. Das Fahrerfenster senkt sich. Kaum merklich weist uns eine Hand an, dem Wagen zu folgen. Keine Menschenseele ist zu sehen.
Was nach einer Drogenübergabeszene in einem Mafiafilm aussieht, ist auch eine solche. Der Stoff, der uns interessiert, heisst Les Galipes de Coulommes und Vendanges Solaire. Dem Vernehmen nach höllisch gutes Zeug.
In den mit Nebelschwaden durchzogenen Lichtkegeln unserer Schweinwerfer taucht ein Gebäude auf. Wir halten. Aus dem Passat steigt ein Mann. Und der will so gar nicht nach einem Kartellboss aussehen. Den jungen Jean-Paul Sartre vermögen wir, eher zu erkennen. Mit dem Vornamen liegen wir denn auch fast richtig: Vor uns steht Jean Servagnat.
Dass sich der vermeintliche Mafiaboss tatsächlich aufs Philosophieren versteht, wird uns im Gespräch schnell klar. Besonders beeindruckt sind wir von der radikalen Einfachheit von Jeans philosophischem Ansatz. Wieso er auf biologische Produktion umgestellt hat? «Weil der Champagner einfach besser schmeckt.»
Der Servagnat’sche Grundsatz besticht nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Als wir uns die Düfte seines Stoffs zum ersten Mal gierig unsere Nasen hochziehen, tritt unmittelbar ein euphorisierender Effekt ein. Der Galipes beglückt uns mit Noten von Limetten- und Grapefruitschalen, Honig und Verveine. Und der Vendanges Solaire ist richtiger crazy shit! Königslilien, Bananen, Holunderblüten, Bitterorangenschalen. Beflügelt durch die olfaktorischen Qualitäten, konsumieren wir auch gastrointestinal.
Hoffnungslos angefixt teilen wir Jean mit, dass wir um jeden Preis kaufwillig sind. Der ziert sich jedoch. Es würden in der nächsten Zeit weitere Dealer, ähm Champagnerhändler aus der Schweiz vorbeischauen. «Ich zeige Euch aber morgen früh gerne meine Weinberge und lade Euch zum Mittagessen ein.»
Jeans Reben liegen malerisch auf der Spitze eines langgezogenen Hügels, der einem eine kilometerweite Sicht Richtung Reims freigibt. Vor vier Jahren hat Jean sie – seinem Investmentbankerdasein überdrüssig – vom Pächter übernommen, der das Familiengut 40 Jahre bewirtschaftet hatte. Nicht zu dessen Freude, aber zu unserer.
Nach der Besichtigung der rückgewonnenen Meunier-, Pinot-noir- und Chardonnay-Stöcke steigen wir in Jeans Lieferwagen. Bald passieren wir ein herrschaftliches Eingangstor und erkennen von Weitem ein Schloss. Vorbei am vor 300 Jahren angelegten Parkteich und an einem Pfau, der uns leider kein Rad schlägt, erreichen wir den Schlossinnenhof. Dort erwartet uns die Schlossherrin, Jeans Mutter, die uns ein ihren Worten nach «traditionelles französisches hors d’oeuvre» bereitet hat: Toast bestrichen mit foie de morue, Kabeljauleber. Ja, auch wir sind skeptisch. Bald wagen wir aber, scheu zu fragen, ob es noch mehr davon habe.
Bereits auf unserer Heimreise plagen uns Entzugserscheinungen. Auf rasche Erlösung warten wir aber vergeblich. Ganze zwei Monate wachen wir jeden Morgen schweissgebadet auf, bis auf unserem Smartphone Jeans Name gefolgt von einer Nachricht aufleuchtet: «J’aimerais travailler avec vous.»