Es ist 8:17 Uhr. Wir stehen mitten in alten Chardonnay-Reben. Der Wind, vermischt mit kleinen zu Eis gefrorenen Nebeltröpfchen, peitscht uns ins Gesicht. Vom Boden schleicht die Kälte ins Hosenbeininnere. Innerlich gratulieren wir uns, trotz erhoffter Märzensonne Handschuhe eingepackt zu haben.
Beim Anblick des Winzers, den wir heute besuchen, schmilzt unser Stolz jedoch wie Schnee an eben dieser Sonne. Ohne Jacke oder andere Wärme verheissende Kleidungsstücke – noch dazu in Sneakern – steht uns Paul Girard gegenüber. «Avez-vous froid?» Wir doch nicht.
Beruhigt zeigt Paul auf einen bohnenartigen Strauch, der zwischen seinen Reben wächst. Mit wissenschaftlicher Präzision erläutert er, wie viele Kilo weniger Stickstoff das struppige Pflänzchen verbrauche als etwa Gräser, und viel mehr Nahrung damit den Reben zur Verfügung stehe. «Stickstoff sparen ist nützlich, wenn man biologisch arbeitet und keinen Kunstdünger einsetzen darf.»
Als Paul erwähnt, er bewirtschafte insgesamt 120 Parzellen, befürchten wir einen kältereichen Tag. Paul will uns aber nur erklären, dass er die Ernte jeder der teilweise winzigen Parzellen einzeln presst. «Das ist aufwendig, aber so lerne ich alle Nuancen meiner Böden und Trauben kennen.» Wieder spricht der Wissenschaftler.
Zumindest nicht dem Klischee eines Wissenschaftlers entspricht Pauls Zahnpastawerbungslächeln. Das passt eher zu einem Surfer oder einem Vertreter für trendige Spirituosen. Letzteres war denn auch Pauls Job bis zu seinem 24. Geburtstag. Dann merkte er, dass es ihn mehr befriedigt, sein Lächeln zarten Chardonnay-Pflänzchen (und Schweizer Champagnerimporteuren) zu schenken als Pariser Nachtklubbesitzern. Heute arbeite er doppelt so viel, sei aber halb so müde.
Mittlerweile sind wir in der cuverie angekommen, wo sich der Eindruck des präzisen Wissenschaftlers verfestigt. In Pauls Laboratorium befinden sich verschiedenste Arten von Fässern für Experimente und Sauberkeit ist das erste Gebot. Unsere Schuhabdrücke aus Erde überleben nur wenige Sekunden.
Und in der cuverie ist auch die Kälte endlich da angelangt, wo wir sie mögen: in unserem Mund. Das erste Wort, das uns bei der Degustation einfällt, ist wenig überraschend «präzise». Die einzelnen Geschmäcker grenzen sich beeindruckend klar voneinander ab. Am häufigsten notieren wir in unser Degustationsheft aber das Wort «frisch»: «frisch mit Kokos», «frisch und rauchig», «frische erstklassige Salzbutter», «superfrisch».
Um selbst präzise zu bleiben, müssen wir anmerken, dass sich unsere Beschreibungen nicht auf Pauls Champagner beziehen, sondern auf die dazugehörigen Grundweine. Sein Erstlingswerk, den A Mi-chemin, wollte uns Paul im März partout nicht ausschenken. Er habe die Trinkreife noch nicht erlangt.
Dafür zeigt uns Paul seine Schatzkammer. Dort lagern für einen jungen Winzer bereits bemerkenswert viele Flaschen. Ein Gestell ist mit cuvée secrète angeschrieben, und tatsächlich haben wir das Gerücht vernommen, Paul kultiviere Reben in einer sehr berühmten Einzellage der Champagne. Wir sind aber nur schon froh, die jetzigen Schätze Pauls in die Schweiz bringen zu dürfen.