Wir blicken in den Abgrund. Mindestens sechs Meter geht es in die Tiefe. Keiner von uns wagt, einen Schritt auf die erste der quasi senkrecht aufgetürmten Treppenstufen zu tun. Perrine Fresne ist unsere Ängstlichkeit nicht entgangen. Amüsiert meint sie, dass es nicht nötig sei, zu Fuss zum Keller hinunterzukraxeln, und klappt eine Metallplatte nach unten. Diese ist an eine Art Rollstuhllift montiert, der parallel zur Treppe ins Dunkel führt. Da wir keine Anstalten machen, die Platte zu betreten, gibt uns Perrine einen Schubs. Bevor wir einen Schritt zurück machen können, drückt Perrines Partner Kevin geschwind den roten Startknopf und besiegelt unser Schicksal. Unter lautem Knattern und Surren ruckeln wir los. Adrenalinbedingt halluzinieren wir, mit Indiana Jones auf Schatzsuche zu sein. Und unten angekommen finden wir unseren Schatz tatsächlich: Acht Holzfässer liegen vor uns, gefüllt mit dem Gold der Champagne.
Als wolle Perrine uns unseren Actionfilmtraum weiterträumen lassen, schnappt sie sich eine lange gläserne Degustationspipette und handhabt sie wie einen Degen. Gekonnt sticht sie in die Öffnung eines der Fässer, als würde sie einem am Boden liegenden Gegner den Gnadenstoss versetzen. Beim Herausziehen der Pipette erschaudern wir. Rot wie Blut glänzt ihr Instrument und an der Spitze löst sich ein roter Tropfen, der zurück ins Fass fällt. Was würde Indiana Jones tun, wäre er in einen satanistischen Hinterhalt gelockt worden? Er würde ruhig bleiben.
Perrine führt die Pipette zu Kelchen, die aussehen als wären es Degustationsgläser. In jeden der Kelche entlässt sie ein wenig von der roten Flüssigkeit. Ihr Messdiener Kevin reicht uns, einem nach dem anderen, einen Kelch und fordert uns auf zu probieren. «Nous dégustons le vin de base pour mon champagne rosé», erklärt Perrine. Wir sind zugleich erleichtert und enttäuscht, dass wir wirklich Degustationsgläser in unseren Händen halten. Unsere Enttäuschung verfliegt freilich gleich nach dem Ansetzen unserer Nasen, die Weichselkirschen und etwas Zimt erschnuppern. Einen Hauch von Schiesspulver meinen wir, ebenso zu erkennen.
Nachdem wir auch die Grundweine für Perrines Champagner Sarmate degustieren durften, sind wir gut gestärkt für ein weiteres Abenteuer und nehmen den Aufstieg ans Tageslicht in Angriff; dieses Mal ganz ohne mechanische Hilfe.
Nun stehen wir in einem Rebendschungel mit dem Namen Le Mahomet, benannt nach dem islamischen Propheten. Koranfest wie wir sind, erstaunt uns diese Namensgebung nicht. Heisst es doch in Vers 67 der Sure 16: «Und wir geben Euch von den Früchten der Weinstöcke, woraus Ihr Euch einen Rauschtrank macht. Darin liegt ein Zeichen für Leute, die Verstand haben.»
Nicht weit von der Parzelle Le Mahomet entfernt liegt die mit 60 Jahre alten Meunierreben bestockte Lage Les Basses Croix, die tiefen Kreuze, wo Perrine ebenfalls Reben besitzt. Auf der Heimfahrt fragen wir uns, ob es dereinst eine Cuvée geben wird, die diese beiden Lagen vereint. Und wir freuen uns, unsere Abenteuer bald flaschenweise mit unseren Kunden teilen zu können.